23. Kapitel: Heiligabend

Ich kann es kaum glauben. Heute ist Heiligabend! Seit Tagen haben wir unsere gesamte Energie in die Renovierung und die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier gesteckt. Stolz schaue ich mich im hochgeschnittenen Eingangsbereich des renovierten Hotels um. Die Wände sind holzvertäfelt und im Kamin flackert ein prächtiges Feuer vor sich hin. Die Weihnachtsmusik ist bei den vielen Menschen kaum zu hören. Am anderen Ende des Raumes entdecke ich die Einbeinige Mary, die sich auf ihre abgenutzten Krücken stützt und in ein Gespräch mit dem Bürgermeister vertieft. Drew, der sich in seiner menschlichen Gestalt befindet, unterhält sich angeregt mit meinem Onkel Carl und Kenny. Wirklich alle sind gekommen!

Neben der massiven Holztreppe, an deren Geländer eine Tannengirlande befestigt wurde, steht ein riesiger, geschmückter Weihnachtsbaum, unter dem sich Berge von Geschenken stapeln. So viele Menschen haben sich bereit erklärt, für die Obdachlosen von East Hastings zu spenden. Wir waren ganz überwältigt.

„ALLE MAL HERHÖREN!“, rufe ich in den Raum. Die Gespräche verstummen langsam und ich fahre fort. „Ich möchte nochmal allen danken, die in den letzten Wochen so motiviert mit angepackt haben. Ohne euch wäre das alles hier gar nicht möglich gewesen. Bevor wir gleich zum Festessen übergehen, möchte ich das Wort noch kurz an unseren Bürgermeister übergeben, der uns heute die Ehre erweist, hier anwesend zu sein.“

Der Bürgermeister ist ein kleiner, rundlicher Kerl mit Halbglatze und Schnauzer. Er ist der Einzige im Raum, der zu diesem Anlass Anzug und Krawatte trägt. Auf meine Ankündigung hin tritt er vor und stellt sich neben mich.

„Es ist mir eine Ehre, heute hier zu sein“, beginnt er seine Rede und zeigt auf mich. „Was Cassandra in diesem Hotel für die Obdachlosen dieser Stadt geleistet hat, ist wirklich bemerkenswert.“

Bevor er weiterreden kann, ruft jemand „Wurde auch Zeit“ dazwischen, woraufhin ein zustimmendes Raunen durch die Menge geht. Das Gesicht des Bürgermeisters nimmt eine leicht rötliche Färbung an, doch er ignoriert den Kommentar und fährt unbeirrt fort.

„Als Oberhaupt der Stadt Vancouver gebe ich mein Bestes, um allen Bewohnern ein komfortables Leben zu ermöglichen.“

„Lügner“, ertönt es erneut aus dem Publikum. 

Der Bürgermeister atmet tief ein und sagt schließlich: „Doch bei einigen Menschen bin ich offenbar gescheitert. Sie haben ihre Jobs verloren, konnten und können ihre Miete nicht mehr bezahlen und werden im schlimmsten Fall sogar drogenabhängig. Ich habe gerade mit einer reizenden jungen Dame gesprochen, die früher für unser Land gedient hat. Ihr verdanken wir alle unser Leben in Freiheit und doch haust sie im Moment auf der Straße. Und das ist nicht zuletzt auch meine Schuld.“ Er macht eine Pause und lässt seine Worte wirken. „Daher werden wir als Stadt Vancouver in Zukunft dieses Hotel als Notunterkunft für Obdachlose in East Hastings betreiben. Wir nennen es „Herberge Hastings“. Natürlich reicht der Platz bei Weitem nicht für alle, weshalb wir auch einige der angrenzenden Gebäude renovieren werden. Außerdem werden wir eine kostenlose Drogenberatungsstelle einrichten, zu der alle Bedürftigen Zutritt haben. Cassandra hier hat uns gezeigt, wie wichtig all diese Maßnahmen sind und was echte Nächstenliebe bedeutet.“Alle im Raum schauen mich an. Obwohl ich mich geschmeichelt von den lieben Worten des Bürgermeisters fühle, würde ich am liebsten im Erdboden versinken. Daher bin ich auch mehr als dankbar, als der Bürgermeister endlich das Buffett im Speisesaal des Hotels eröffnet.