9. Kapitel: Der Schal

„Guten Morgen! Wie geht’s, wie steht’s?“, begrüße ich die „Einbeinige Mary“, wie ich sie insgeheim getauft habe. Sie hat sich wie bei meinem letzten Besuch in ihrem Container eingeigelt. Ihre kleine Gaslampe leuchtet in der Morgendämmerung.

„Och, den Umständen entsprechend, würd‘ ich sagen“, antwortet sie sichtlich erschöpft. „Kalt isses“, schiebt sie hinterher.

Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr es in den letzten Tagen abgekühlt ist. Die Temperaturen sind auf zwei Grad Celsius gefallen und werden vermutlich auch nicht so schnell wieder ansteigen. Ohne zu zögern, greife ich meinen Schal und gebe ihn Mary.

„Hier, der ist noch angewärmt. Du brauchst ihn mehr als ich“, sage ich lächelnd. Mary schaut glücklich auf den Schal in ihren Händen, bindet ihn sich schnell um den Hals und sieht mich dann dankbar an, ganz so, als hätte ich ihr das kostbarste Geschenk der Welt gemacht. Jetzt ist ein guter Moment, um mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Sag mal, ich möchte dir und den anderen gern helfen. Würdest du mir diesbezüglich einen Gefallen tun?“, frage ich unverblümt.

„Na, spuck’s schon aus“, erwidert die Einbeinige Mary ungeduldig. „Ich würde alles tun, um von der Straße wegzukommen und meinen Kindern eine bessere Perspektive zu geben.“

„Also. ich plane über Social Media auf eure Lage aufmerksam zu machen. Wir können eure Geschichten erzählen und berichten, warum einige von euch auf der Straße gelandet sind“, beginne ich meine Erklärung. „Außerdem würde ich gern einen Spendenaufruf starten, eines der leerstehenden Häuser hier renovieren und ein großes Weihnachtsessen veranstalten. Das würde euch mit Menschen zusammenbringen, die helfen möchten. Was meinst du?“

Die Einbeinige Mary schaut mich skeptisch an. Während meiner Ausführung hat sich ihre Miene immer weiter verdunkelt.

„Schau mal: ich find‘ es toll, dass du dich so für uns starkmachst, Schätzchen. Aber die Realität sagt doch, dass keiner was von uns wissen will. Wir sind anders, Abschaum, Aussätzige! Wer will uns schon helfen? Ich glaube nicht, dass das funktioniert.“

Diese Reaktion habe ich bereits erwartet. Und ich habe auch schon eine passende Antwort parat.

„Du magst recht haben mit deiner Vermutung. Aber meinst du nicht, wir sollten es wenigsten versuchen?“, probiere ich sie umzustimmen. „Verlieren können wir schließlich nichts; meinst du nicht auch?“

Die Einbeinige Mary schaut immer noch skeptisch, doch ihr Gesichtsausdruck entspannt sich allmählich. „Wahrscheinlich hast du recht. Einen Versuch ist es bestimmt wert.“

Ich meine, sogar ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln auf ihren Lippen zu sehen.