11. Kapitel: Vorbereitung

Seitdem Drew das Posten übernommen hat, habe ich viel Zeit, um über die Renovierung eines Gebäudes in Downtown Eastside nachzudenken. Ich bin während der letzten drei Tage bestimmt mindestens fünfmal vor Ort gewesen, um mit der Einbeinigen Mary und den anderen zu sprechen. Mittlerweile habe ich mich mit vielen der Obdachlosen ausgetauscht und dabei die wildesten und zugleich traurigsten Geschichten zu hören bekommen. Und es ist mir kurzfristig gelungen, eine Renovierungsgenehmigung bei der Stadt Vancouver einzuholen. 

Jetzt dürfte unserem Projekt eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Morgen soll es schon losgehen. Drew postet weiterhin fleißig und hat so bereits über fünfzig fleißige Helfer für den Umbau anwerben können. Viele sind selbst langjährig in der Baubranche oder im Handwerk tätig gewesen und bringen ihre eigenen Werkzeuge und Maschinen mit. Das Material haben wir über Spenden organisiert. Ich bin mehr als stolz auf uns – dass wir das alles so zeitnah auf die Beine stellen würden, hätte ich ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten.

„Haben wir alles für morgen beisammen? Material, Werkzeuge, …“, fragt Drew mich aufgeregt und hüpft auf der Küchentheke auf und ab. Wir sind wie so oft in der Zentrale und koordinieren die letzten Handgriffe für den morgigen Baustart.

„Klar, keine Sorge! Wir haben alles beisammen. Alle sind informiert – um 9 geht es los“, beruhige ich ihn. Gedanklich gehe ich trotzdem vorsichtshalber nochmal alles in Ruhe durch, bis Drew meine Konzentration durchbricht.

„Wie gefällt dir deine Mission denn bisher? Hast du es dir so vorgestellt?“

Darüber muss ich nachdenken. Die letzten Tage waren zu aufregend, um das Erlebte ordentlich zu reflektieren. Nach einigen Sekunden antworte ich ihm: „Ja, ich denke, es ist anders als ich es erwartet habe. Zum Beispiel hätte ich nicht gedacht, dass Armut hier so extreme Ausmaße annehmen kann. In Cube ist das überhaupt kein Thema. Wir leben als Kollektiv – jeder hilft jedem – und unsere Währung ist Wissen. Armut als solche existiert also förmlich nicht. Wenn es jemandem schlecht geht, dann versuchen wir ihn als Gesellschaft solidarisch aufzupäppeln. Außerdem ist niemand bestrebt, für Geld zu arbeiten. Unser Ziel ist die Maximierung unseres gemeinsamen Wissens, da uns bewusst ist, dass wir zusammen mehr erreichen können. Bewohner, die besonders herausragende Erkenntnisse errungen haben, werden offiziell geehrt und intern gibt es einige kleinere Wettbewerbe, die demjenigen Ehre gebühren, der am schnellsten das meiste Wissen generieren kann. Konkurrenzdenken ist also nur begrenzt existent. Daher ist das Konzept von Armut, wie sie hier existiert, für mich völlig neu“, versuche ich Drew meine Erfahrungen zu erläutern.

„Und du hast mich an der Backe – damit hast du sicherlich auch nicht gerechnet, he?“, erwidert er grinsend.

„Nein“, lache ich. „Das war tatsächlich eine unerwartete Überraschung. Erst dachte ich, dass ich dich nicht brauchen werde, aber jetzt bin ich doch froh, dass du dabei bist. Irgendwie bist du ein richtig guter Freund für mich geworden.“Drew schaut verlegen zur Seite und ich bin mir sicher, dass er unter seiner Hornbrille und dem Flaum ein wenig rot wird.