6. Kapitel: Die Einbeinige Mary

Vorsichtig nähere ich mich den heruntergekommenen Gestalten der East Hastings Street. Überall liegen dreckige Klamotten, Decken und Camping-Kocher herum. Ganz zu schweigen von den verklebten Löffeln, Tütchen und Spritzen. Drogenabhängigkeit scheint ein größeres Thema zu sein, als ich zunächst dachte. Trotzdem wirken alle recht friedlich – keine der Gestalten wagt es, mir näher zu kommen oder mich zu berühren. Die meisten scheinen mit sich selbst beschäftigt zu sein.

„Wofür sind denn die ganzen Spritzen?”, flüstert mir Drew zu. „Ich dachte, Corona-Impfungen sind mittlerweile vorbei.”

Innerlich verfluche ich Carl und Kenny dafür, dass sie mir ein nerviges Küken ans Bein gebunden hat. „Nein, die werden wahrscheinlich genutzt, um Drogen zu spritzen”, flüstere ich zurück. „Und jetzt still!”

Ohne viel nachzudenken, gehe ich auf eine Frau zu, die es sich weiter abseits in einem umgestoßenen Müllcontainer gemütlich gemacht hat. Eine kleine Gaslampe leuchtet zwischen den vielen Decken und Büchern, zwischen denen die Frau liegt und liest. Sie scheint nicht weiter gefährlich zu sein.

„Hallo, mein Name ist Cassandra.”

Die Frau blickt erstaunt auf. „Ich bin Mary”, erwidert sie. „Normalerweise spricht uns hier niemand an, der nich’ auf der Straße lebt. Das hier is‘ ne ganz üble Gegend.” Sie schaut sich verstohlen um. “Du solltest lieber verschwinden“, raunt sie mir dann zu.

„Danke für die Warnung, aber ich komme, um euch zu helfen. Meine Mission ist es, die Obdachlosigkeit in Downtown Eastside zu bekämpfen“, erkläre ich nicht ohne Stolz.

„Na, dann viel Erfolg“, lacht sie bitter. „Ich persönlich bin schon seit fünf Jahren auf der Straße und bis jetzt hat niemand hier irgendwas erreicht. Die Regierung versucht immer mal wieder, gegenzusteuern, aber letzten Endes kann man das alles vergessen.“ Mary schnieft abwertend. „Hab‘ früher für die kanadische Armee gedient und dabei ein Bein verloren.“ Sie schlägt die Decke zurück, in die sie eingehüllt ist und zeigt auf das, was von ihrem linken Bein noch übrig ist. Erst jetzt fallen mir auch die heruntergekommenen Krücken auf, die neben ihr liegen. „Scheiße is’ das! Danach konnten sie mich nich‘ mehr gebrauchen und haben mich entlassen. Hab‘ keinen anderen Job mehr finden können und der Staat hat mir auch nich‘ geholfen. Traurig is‘ das.“ Sie schaut zu Boden und scheint für einen Moment in ihren düsteren Gedanken zu versinken. „Aber dafür kannst du ja nix, eh?“, meint sie dann wohlwollend. 

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Stattdessen frage ich Mary, ob sie Familie und Freunde hat, die sie unterstützen können.

„Freunde – pah“, lacht sie traurig. „Haben mich alle im Stich gelassen. Meine beiden Kinder sind mein einziger Lichtblick. Ohne sie hätt‘ ich schon längst den Löffel abgegeben. Gibt sonst keinen Grund mehr zu leben. Die Kinder sind mein Ein und Alles! Die vom Jugendamt erlauben mir zweimal die Woche, die beiden Goldengel zu sehen. Das sind die einzig wichtigen Tage für mich!“ Sie scheint für einen kurzen Moment in glücklichen Erinnerungen zu schwelgen.

Ich verabschiede mich von der Frau und gehe in Gedanken versunken zurück zur Zentrale. Es wird bereits dunkel. Ich weiß nun mit völliger Sicherheit, dass ich diesen Menschen helfen muss. Selbst wenn ich nicht jeden Einzelnen aus der Armut befreien kann – wenigsten Mary soll es gut gehen.